Die Merchinger Kirche

von Hans Leistenschneider

das erste bedeutende Werk des modernen Kirchenbaus auf deutschem Boden

Am 1. Juni 1930 konsekrierte Weihbischof Dr. Mönch von Trier die Kirche der hl. Agatha zu Merchingen. Heute, 50 Jahre danach, hat die Pfarrei allen Grund, sich voller Freude und Stolz dieses Tages zu erinnern, an dem ein Werk seinen Abschluß fand, dessen Durchführung ein Jahr zuvor noch viele für unmöglich hielten. Das Baujahr -1929- war ein Jahr allgemeiner, großer Not. Nur der beispiellose, persönliche Einsatz aller Pfarrangehörigen brachte das schier Unmögliche zuwege. Dabei entstand ein Gotteshaus von historischer Bedeutung. Zum erstenmal auf deutschem Boden gelang eine überzeugende Synthese moderner, christlicher Glaubenshaltung und neuer Baukunst.

Eine Kirche der ,,liturgischen Bewegung"

Die neue Glaubenshaltung fand ihren Ausdruck in der liturgischen Bewegung. Sie versuchte, die Gläubigen zur aktiven Mitfeier des hl. Meßopfers zu gewinnen. Aus vielen stillen Betern sollte eine betende Gemeinschaft wer den. Vielerorts versammelte man die Jugend um den Altar.

Diesen Forderungen trägt der Architekt bei der Planung der neuen Kirche Rechnung. Er verzichtet auf das hergebrachte Gegenüber von Altar und Gläubigen. Statt dessen versucht er, die Gläubigen dicht um den Altar zu versammeln. Deshalb legt er das Hauptschiff möglichst breit an. In der vorderen Hälfte erweitert er es um zwei Querarme. In diesen Seitenräumen werden die Bänke weit über die des Hauptschiffes hinaus vorgezogen. Sie sind um zwei Stufen erhöht, damit man gut auf den Altar sehen kann. Der Altarraum ragt in die Versammlung der Gläubigen. Hinter dem Altar schafft der Architekt eine Empore auf der die Sänger den Kreis um den Altar schließen sollen. Der Vers des kirchlichen Abendgebets ist augenfällige Wirklichkeit geworden: ,,Du aber bist in unserer Mitte, 0 Herr"

Wie der Architekt den Altar in den Kreis der Gläubigen stellt, so stellt er die Kirche in den Kreis der Häuser. Ihre Fassade steht in der Bauflucht der Straße. Pfarrhaus und Jugendheim schaffen die Verbindung zu den benachbarten Gebäuden. Die Kirche ist eingebunden in das Dorf.

 

 

Grundriß aus:
Clemens Holzmeister
Kirchenbau ewig neu

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Eine ganz und gar moderne Kirche

Die Vorstellungen der ,,neuen Baukunst" werden vom Bauhaus in Dresden entwickelt und vertreten. Dort fordert man, daß alle Räume ihren Funktionen entsprechend gestaltet werden, daß das Innere eines Bauwerks sein Äußeres bestimme und daß alles Material gemäß seiner Eigenart verwendet werde. Auch diesen Forderungen wird die neue Kirche gerecht. Der Architekt verzichtet auf konventionelle kirchliche Bauformen wie Tumfassaden, getrennte Schiffe, Gewölbe. Er schafft einen großen, klaren Raum in übersichtlicher Gliederung. Betritt man die Kirche durch den düsteren Windfang, kommt man durch den größeren, höheren und helleren Raum unter der Empore in den lichtdurchfluteten Hauptraum. Licht, Höhe und Weite nehmen dreifach zu.

Die Wände sind weiß, sie dienen ohne jede Gliederung als klare Raumabschlüsse. Sie geben der Kirche Größe und Würde.

fenster.jpg (14224 Byte) Die Fenster sind ohne Fassung in die Wände eingeschnitten. Auf jeder Seite der Seitenräume sind es drei Rundbogenfenster, die viel Licht in das Kircheninnere eindringen lassen. Die hellste Stelle der Kirche ist der Raum über der Empore. Fünf verdeckte Rundbogenfenster lassen das Licht indirekt einfließen und geben dem Altarraum das wie ein Symbol wirkende Licht von oben. Im hinteren Teil der Kirche sind vier Rosetten, die in ihrer dichten Farbigkeit den weißen Wänden je nach Sonnenstand farbigen Glanz verleihen.

Der stärkste Eindruck geht vom Dachstuhl aus. Er überspannt die ganze Breite des Raumes. Seine kräftige Balkenkonstruktion wirkt wie ein Schutzschild. Die schwarzbraune Dunkelheit des Gebälks vermittelt ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit.

Das Äußere

Das Äußere der Kirche ist von Frömmigkeit und Sachlichkeit gleichermaßen geprägt. Die Fassade ist lediglich vorderer Raumabschluß. Eine breite Treppe führt zum Eingang hoch. ursprünglich war sie mit einer Betonbrüstung versehen. Hart, eckig und kantig meidet sie das Leichte, Gefällige.

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Über dem Portal ein Kreuz, in seiner Größe die Front beherrschend. Am Kreuz Christus als König mit der Krone auf dem Haupt. Hinter dem Kreuz ein Rundfenster, das man als Nimbus, aber auch als Erdball deuten kann, über den Christus seine Herrschaft ausübt. Zu Füßen des Kreuzes Symbole der Evangelisten, wie Konsolen, Stützen des Königtums Christi.
Auf beiden Seiten des Kreuzes je ein Relief, links die Ölbergszene, rechts die Auferstehung darstellend. Christus ist am Ölberg hart in die Knie gesunken, doch aufrecht, die Arme weit ausgebreitet, bereit, alle Sündenlast dieser Welt auf sich zu nehmen. Die vorherrschende Richtung im Relief ist die Waagerechte. Anders in der Auferstehungsszene. Hier schwebt Christus aus dem Grab empor seine Gestalt hat bereits den Rand des Reliefs überschritten.

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Den Abschluß der Fassade bildet der niedrige Glockenturm.

Das Baumaterial

fassade.jpg (8225 Byte) Der gesamte Bau ist in Warmbeton ausgeführt. Der Not gehorchend hat man dieses neue Verfahren gewählt weil es der Pfarrei ein Drittel der Baukosten einsparen soll. Da man sich für dieses Material entschlossen hat, wendet man es mit aller Konsequenz an. Die Verschalungsstruktur läßt man hinterher sichtbar. Die Reliefs werden im selben System hergestellt. Sie werden beim Guß der Fassade mitgegossen. Ebenso die Evangelistensymbole. Pfarrhaus und Jugendheim entstehen auf gleiche Weise. Sie bilden mit der Kirche eine Einheit, das erste Pfarrzentrum im kath. Raum. Ähnlich ,,materialgerecht" geht man im Innern vor, indem man die Wände tüncht und die Balken mit Karbolineum tränkt.

Die Innenausstattung

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St. Johannes

 

In der Wahrhaftigkeit im Umgang mit dem Material liegt eine besondere Schönheit. Auch hier erweist sich die Merchinger Kirche als führend. Die Fenster entwirft Prof. Wendling aus Berlin. Er verzichtet bei den Heiligenfenstern auf illusionistische Binnenzeichnungen mit Schwarzlot. Statt dessen lehnt er sich an die Kunst der Glasmalerei des Mittelalters an, indem er reinfarbige Gläser zu einem Bild zusammenfügt. Dabei bevorzugt er die Lieblingsfarben der Gotik: Rot und Blau. Die Gestalten stellt er in strenger Gestik frontal vor uns.

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St. Agatha

 

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Guter Hirte

Die Holzfiguren in Innern und die Plastiken an der Außenfront stammen von den Tirolern Adlhart und Bodingbauer. Sie sind alle von kompakter Form, ohne ausgreifende Gestik und so ursprünglich belassen, daß Material und Arbeitsspuren deutlich zu erkennen sind. Die Stützen in Dachstuhl sind mit wenigen, kräftigen Schnitten zu Apostelfiguren gestaltet. Reine Farben gliedern sie.

 

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Hl. Josef

Der Architekt

Der Architekt der Kirche ist der 1886 in Tirol geborene Clemens Holzmeister. 1929 war er Leiter der Architekturklasse an den Akademien in Düsseldorf und in Wien. Heute kann er auf ein sehr umfangreiches Werk zurückblicken. Er wird der Erbauer Ankaras genannt. Dort hat er u.a. das Parlamentsgebäude, das Kriegsministerium und die Sommerresidenz des Kemal Pascha geschaffen. Das Neue Schauspielhaus in Salzburg stammt von ihm. Holzmeister ist ein Mann mit großem Einfühlungsvermögen. Ehe er an den Entwurf der Kirche geht, zeichnet er das Dorf, wie es sich an den sanften Hängen der Mulde ausbreitet. Seine Kirche bekommt die Züge des Dorfes. Sie wird breit gelagert, wenig gegliedert und erhält die gleiche Dachschrägung wie die Häuser. Pfarrhaus und Jugendheim binden sie an das Dorf an. Das Pfarrhaus erhält die typischen Speicherlüftungsöffnungen des lothringischen Bauernhauses. Nichts ist Holzmeister zu gering, es zu beachten. Er entwirft selbst die Türen, das Gestühl, die Kommunionbank, auch Kerzenhalter und Beleuchtungskörper. Er sorgt sich um die Ausstattung der Kirche. Prof. Wendling entwirft Paramente, Teppich und Hungertuch. Ruth Schaumann schafft einen Kreuzweg in Scherenschnitten. Das Ergebnis, ein geschlossenes Kunstwerk.

Die Kirche im Streit der Meinungen

Die fromme Gesinnung und die künstlerische Ehrlichkeit, mit der die Kirche geschaffen wurde, der Mut, mit dem man bei ihrem Bau Neuland betrat, lösten weithin begeisterte Zustimmung aus. In Kunstzeitschriften, überregionalen Zeitungen und in vielen Vorträgen wurde die neue Kirche bekanntgemacht. 1932 zeigte man auf dem Essener Katholikentag Bilder von ihr, die dann von der kath. Illustrierten ,,Der Feuerreiter" veröffentlicht wurden.

Leider stieß sich auch Unverstand an diesen und anderen Versuchen, die moderne Kunst in den Dienst der Kirche zu stellen. Der Hauptschriftleiter des ,,Osservatore Romano" schimpfte sie insgesamt ,,Gotteslästerungen im Bild" und nannte die Merchinger Kirche ,,ein großes Bauernhaus mit Scheune". Die Diskussion, die darauf entstand, trug schließlich zu einem besseren Verhältnis zwischen Kirche und moderner Kunst bei. Der bekannte Kunsthistoriker Dr. Heinrich Lützeler gehörte zu den begeisterten Anhängern der Merchinger Kirche.

Man ist geneigt zu fragen, wie es kam, daß so ein bahnbrechendes Werk gerade in Merchingen. errichtet wurde. Das ist das Verdienst des jungen Pastors Johann Speicher. Er hat den Bruder Holzmeisters beim Studium in Rom kennengelernt und setzt nun auf den modernen Architekten. Seiner Aufgabe als Bauherr gibt er sich mit jeder Phase seines Wesens hin. Er wirbt, bittet, bettelt, legt selbst Hand an und bleibt stark gegen alle Widerstände, alle Polemik. In der Chronik des Kirchenbauvereins ist ein Brief des Architekten an Pastor Speicher enthalten, in dem es heißt: ,,Wenn durch mein Werk, das ich in so schöner Harmonie mit Ihnen vollenden durfte, soviel Erhebendes in den Herzen der Saarländer immer wieder anklingen kann, wenn die Gesinnung, die den ganzen Bau erfüllt, wahrhafte Frömmigkeit täglich und stündlich zum Ruhme des Herrn hervorruft, dann ist dies ja viel wertvoller als jede noch so große Auszeichnung und noch so große, etwa internationale Anerkennung. Aus diesem Grunde wird mir Merchingen immer ein Stück meines Herzens bleiben. Ich muß aber vor allem auch Ihnen danken, daß Sie mit seltenen Bekennermut und als streitendes Glied der Kirche alle Angriffe von außen stets siegreich abgeschlagen und daß Sie in mich ein unverrückbares Vertrauen gesetzt haben, das mir immer wieder Triebfeder war, das Beste zu geben, was dem Künstler der Herr geschenkt". Die Pfarrei hat dem Bauherrn, Pastor Speicher, in der Kirche eine Gedenktafel gesetzt.

Die Kirche, eine bleibende Verpflichtung

Im Vorstehenden ist die Kirche beschrieben, wie sie vor 50 Jahre war. Kriegseinwirkungen und Witterungseinflüsse hatten ihr schlimmen Schaden zugefügt. Um Schlimmeres abzuhalten, mußte bei den Ausbesserungen manches in Kauf genommen werden, was der Kirche Abbruch tat. Nun soll sie wieder so hergerichtet werden, daß ihre eigenartige Schönheit allen sichtbar wird, eine große Aufgabe, die gemeinsame Anstrengungen von Pfarrei, Stadt, Land und Diözese verlangt, denn ihnen allen gerät zur Ehre, was vor 50 Jahren vollendet wurde: das erste bedeutende Werk modernen Kirchenbaus auf deutschem Boden.

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